Aufstieg eines bedeutenden Stahlkonzerns aus Belgien: Cockerill Sambre (Seraing)
Der Aufstieg von Cockerill-Sambre zum Großkonzern ist eng verbunden mit der Übergabe des Maschinenbaubetriebs von William Cockerill an seine Söhne John und Charles James. Ähnlich wie bei berühmten Ruhr-Dynastien, brachte vor allem dieser Generationswechsel die Initialzündung zum Wachstum. John Cockerill erwarb 1817 das Schloss Searing von König Wilhelm I. Belgien gehörte damals nach Loslösung von Frankreich zum Königreich der Niederlande. Diese Veränderung brachte einen empfindlichen Einbruch für das spätere Belgien mit sich, denn plötzlich wurde der Warenfluss nach Frankreich durch neue Zollgrenzen verteuert. Wilhelm I ergriff aus diesem Grund zahlreiche Maßnahmen, um die Wirtschaft im belgischen Gebiet rasch wieder anzukurbeln.
Die Cockerills waren zu dieser Zeit bereits über die Grenzen Belgiens angesehen. Ihre Betriebe produzierten bereits Dampfmaschinen und Pressen. Sie folgten dem Ruf Preussens und es gab einen ansehnlichen wirtschaftlichen Austausch. Abordnungen des Wirtschaftsministeriums besuchten die Cockerills in Lüttich und die Cockerills gaben dem Werben Preussens, sich auch dort industriell zu betätigen, gerne nach. Sie engagierten sich dort im Maschinenbau und in eigenen Textilfabriken.
Der Staat steigt bei Cockerill ein
1816 kam es zu einer denkwürdigen Begegnung: John Cockerill erhielt in kurzer Zeit zwei Audienzen beim König des Vereinigten Königreichs der Niederlande und konnte diesen vollumfänglich überzeugen, die Wirtschaft Belgiens nachhaltig durch Aufbau von Stahlunternehmungen zu beleben. So konnten die Cockerills das Schloss Seraing mit erheblichen Ländereien für einen Bruchteil seines Wertes kaufen. Es stand zu dieser Zeit bereits leer und war mehrfach umgenutzt worden. Das Areal lag nicht weit entfernt von den Fabriken der Brüder in Lüttich und so entstanden weitere Produktionsstandorte in Searing, u. a. eine Gießerei mit Kupolöfen und eine Maschinenfabrik. Im Rahmen der Wirtschaftsförderungsbemühungen gewährte die niederländische Regierung für den Aufbau großzügige Kredite. Die Produkte der Cockerills genossen früh einen hervorragenden Ruf und wurden nach den modernsten Verfahren gefertigt, angelehnt an die damals fortschrittlichen britischen Fertigungsmethoden. Recht bald stieg man auch in den Bau von Dampfschiffen ein.
Die Cockerills durften sich rühmen eins der bedeutendsten Eisenwerke des Kontinents zu betreiben. Sie zeichneten sich dabei nicht nur durch innovativen Einsatz neuester Technologien aus Großbritannien aus. Als Pioniere gaben sie diese auch recht offen in der Branche weiter. Doch die wallonische Stahlindustrie insgesamt war noch nicht auf dem Niveau Großbritanniens angekommen und auch die Cockerills hatten noch Nachholbedarf. So standen zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 200 Kokshochöfen auf der britischen Insel und in Belgien kein einziger. So kam es, dass auch auf Drängen der Regierung bis 1830 der erste Kokshochofen in Seraing errichtet wurde. Der Staat beteiligte sich großzügig und die Eisenwerke wurde zu einem großen Hüttenwerk modernisiert und ausgebaut. Blaupausen lieferte hierfür die britische Stahlindustrie. Es wurden auch englische Arbeiter angeworben um schnellstmöglich technologisch aufzuholen. Sie erhielten weitaus mehr Lohn als die belgischen Arbeiter.
Cockerill sichert sich Kokskohle
Der Erwerb von Zechen in der Wallonie sicherte eine zuverlässige Belieferung mit Kohle. Cockerill gewährte Wettbewerbern Einblicke in das neue Werk und zahlte Kredite in Form von Produkten an den Staat zurück. James Cockerill war in diesem Zuge zum größten Teil aus dem Unternehmen ausgeschieden. John Cockerill war fortan allein für die Geschicke des bedeutendsten belgischen Stahlunternehmens verantwortlich. Lediglich gegenüber dem beteiligten Königreich hatte er sich zu rechtfertigen.
Doch die Geschäfte liefen gut. Eine Eigenart Cockerills war es, sämtliche Betriebe auf dem weitläufigen Industrieareal strikt organisatorisch getrennt zu führen. Das sorgte für vorbildliche Ordnung und Cockerill wurde über Belgien hinaus zum gern nachgeahmten Vorbild anderer Industrieller. Dampf- und Schiffsdampfmaschinen produzierte Cockerill mittlerweile wie am Schnürchen und erreichte Leistungen, die auch im bislang führenden Großbritannien aufhorchen ließen. Ein weiteres florierendes Geschäftsfeld waren Waffen, u. a. Kanonen. John Cockerill baut die Aktivitäten seiner Unternehmung zu diesem Zeitpunkt über Seraing hinaus immer weiter aus. Allein in Seraing beschäftigte er bereits tausende Arbeiter.
Die Revolution bedroht den wirtschaftlichen Erfolg Cockerills
1830 geriet Cockerill in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Belgien wurde politisch unabhängig vom Königreich der Niederlande und die Verbindung zum König geriet John Cockerill nun eher zum Nachteil. Die Wirtschaft lahmte erneut und mächtige Akteure rund um Lüttich machten ihm seine Stellung streitig. U. a. prangerte man die Machtfülle und Stellung in der Rohstoffausbeutung an. Doch die neue belgische Regierung erkannte natürlich die Bedeutung des Unternehmens in schwierigen Zeiten und trat an die Stelle des niederländischen Königs. Fortan hatte Cockerill seine Verbindlichkeiten beim belgischen Staat zu begleichen. Mühsam errang der Stahlmagnat neue Aufträge und sicherte nach ungewissen Jahren seinem Unternehmen existenzielle Aufträge. Zeitweise baute Cockerill in dieser Phase Motorräder.
1835 wird unter Beteiligung Cockerills die Belgische Bank gegründet. Sie soll helfen Industriegründungen und -erweiterungen zu finanzieren. Noch im gleichen Jahr finanziert sie den Aufbau eines Werkes in Ougrée. Es folgt ein weiterer Kokshochofen in Seraing und eine Dampflokfabrik. Die wieder florierenden Geschäfte versetzen Cockerill in die Lage den belgischen Staat abzufinden und alleiniger Herr über sein Unternehmen zu werden. Es folgte der Kauf von Betrieben und Bergwerken weite über Lüttich hinaus, z. B. in Aachen und der Niederlausitz. Doch das stark expandierende Unternehmen geriet bereits 1838 wieder in Not.
Cockerill-Ougrée wird gegründet
Eine Finanzkrise setzte der Wirtschaft schwer zu und Cockerill war hiervon aufgrund seiner breiten Aktivitäten stark betroffen. Zu allem Unglück erlitt John Cockerill einen schweren Unfall und wurde schwer verletzt. Das Unternehmen schlitterte in die Insolvenz. Mit Vollmacht seines Onkels, verkaufte ein Neffe John Cockerills sämtliche Werke und Beteiligungen. Nur die Kernwerke in Seraing und Lüttich blieben im Eigentum Cockerills. Gläubiger stundeten Zahlungen und der Staat gewährte erneut Darlehen. Das Unternehmen konnte so gerettet werden. John Cockerill selbst verstarb 1840 auf einer Osteuropareise an Typhus.
John Cockerills Erben wandelten das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft, die „Société Anonyme des Etablissements John Cockerill“, um und bedienten die noch bestehenden Verbindlichkeiten, teils waren sie selbst Gläubiger. Der bereits zu Zeiten John Cockerills tätige Generaldirektor Konrad Gustav Pastor führte das Unternehmen zurück an die Spitze der Branche. Nach dem Zweiten Weltkrieg fusionierte Cockerill mit dem Konkurrenten Angleur-Athus, 1955 mit Ougrée-Marihaye. Der Name änderte sich fortan zu „S.A. Cockerill-Ougrée“. Im gleichen Jahr wurde auch Ferblatil integriert.
Expansion und Fusionen von Cockerill Sambre prägen die Nachkriegszeit
Die Nachkriegszeit ließ die Geschäfte florieren wie lange nicht und so schritt die Expansion Cockerills rasant voran. 1961 übernahm man Tolmatil, kurz danach auch das spätere Carsid-Hüttenwerk in Providence / Charleroi. Das Unternehmen hieß fortan „Cockerill-Ougrée-Providence“ 1969 kaufte Cockerill die Phenix Works in Lüttich, ein Jahr später Hope-Longdoz. Die in Providence ungeliebte Übernahme durch Cockerill wurde wieder korrigiert und das Werk ging an Hainaut-Sambre. Der Name wurde fortan wieder schlanker und das Unternehmen hieß wieder schlicht „Cockerill“.
1981 kam es zum Zusammenschluss mit eben jener Hainaut-Sambre und es kam zur Umfirmierung in „Cockerill-Sambre S.A.“. Die neue Cockerill-Sambre stellte nun auf 60 Prozent der Rohstahlerzeugung. All die Fusionen kamen nicht von ungefähr und waren nicht mehr Zeichen florierender Geschäfte. Es war die Zeit der Stahlkrise und Mehrheitseigner dieser Tage war der belgische Staat. Er hielt 80 Prozent der Anteile und versuchte seine Stahlindustrie zu retten. Die Fusionen waren Teil einer Schrumpfkur. Zwecks Abbau von Überkapazitäten wurden zahlreiche Hochöfen, Stahlwerke, Walzstraßen und Kokereien stillgelegt.
1994 beteiligte sich Cockerill-Sambre an den Stahlwerken Bremen (heute Arcelor, damals Klöckner), ein Jahr später an EKO Stahl, dem ehemaligen Eisenhüttenkombinat Eisenhüttenstadt (heute ebenfalls Arcelor). 1998 wurde Cockerill-Sambre seinerseits von der französischen Usinor übernommen und ging zusammen mit Usinor 2002 in Arcelor auf. Das Werk in Providence wurde zuvor an Duferco (Carsid) abgestoßen. Heute firmiert Arcelor nach der Übernahme durch Mittal als ArcelorMittal. Das Unternehmen war eine Weile der größte Stahlkonzern der Welt. Die heisse Phase (der Hochofenbetrieb) in Seraing und Ougrée wurde später stillgelegt und abgebrochen bzw. befindet sich im Abbruch. Arcelor setzt zur Kostensenkung auf küstennahe Standorte.